Vor 5 Jahren...

28. April 2006

Vor der Haustür steht ein kleiner mit Blumen geschmückter Sarg. Sherine, 6-8 Monate alt, ist letzte Nacht im Bett bei ihrer Mama Gudrun gestorben. Sie wird bei strömendem Regen – auch der Himmel weint - in Nice View I, dem Privatgrundstück von Familie Dürr, begraben. Mit Blick aufs Meer und unter einer neu gepflanzten Dornenakazie. Der kleine Baum stammt von einem unserer Ausflüge in den Tsavo Nationalpark.

Ungefähr 4 Wochen zuvor wurden Sherine, ihr älterer Bruder Samuel und ihre junge Mutter, Saumu, von Mitarbeitern einer Hilfsorganisation halbverhungert im Busch gefunden und ins Krankenhaus von Msambweni gebracht. Das Jugendamt informiert Gudrun, die sich sogleich mit Babynahrung und Windeln auf den Weg ins Krankenhaus macht.

Auf der Kinderstation findet sie ein bis aufs Skelett abgemagerten Baby vor. Auch der ältere Bruder ist halb verhungert. Sein Alter wird von den Ärzten auf 3-5 Jahre geschätzt. Seine Mutter hingegen gibt sein Alter mit 2 Jahren an. Wie alt er wirklich ist, ist schwierig zu sagen. Er ist klein, hat vom vielen Hungern Wassereinlagerungen, sein Bauch ist aufgequollen, die Muskulatur ist kaum ausgebildet. Er kann sich nicht selbständig aufsetzen und verharrt in sitzender Position bis man ihn wieder hinlegt. Auch spricht er nicht, streckt Gudrun immer nur bittend eine geöffnete Hand entgegen. Er hat Hunger.

Auch ihre Mutter ist in einem sehr schlechten Zustand. Sie ist extrem abgemagert und kann weder ihre Blase noch ihren Darm kontrollieren. Sie weise die typischen Unterleibsverletzungen eines Vergewaltigungsopfers auf, sagen die Ärzte. Auch sei sie mit HIV infiziert.

Gudrun versorgt die kleine Familie erst einmal mit Nahrung und sorgt dafür, dass sie gewaschen, neu eingekleidet und das Bett frisch bezogen wird. Für Saumu hat sie sogar Kleider von sich selbst mitgebracht. Als aus der Matratze Maden krabbeln, verlangt sie die Oberschwester zu sprechen und bekommt eine neue. Auch stinkt es in dem Krankenzimmer fürchterlich, und Gudrun bringt noch Stunden später keinen Bissen herunter.

Zwei Wochen lang versorgen Gudrun und ihre Mitarbeiter die kleine Familie im Krankenhaus. Gudrun darf sogar außerhalb der Besuchszeiten zu ihnen. Das Krankenhauspersonal weiß aus langjähriger Erfahrung nur allzu gut, dass sie erst dann wieder geht, wenn sie ihre Kinder gesehen hat. Dann darf sie Sherine und Samuel, die Beide wie durch ein Wunder nicht mit HIV infiziert sind, mit nach Nice View I nehmen. Saumu, die trotz ihres geschwächten Zustandes immer wieder zu Fuß ihre Kinder besucht, bleibt im Krankenhaus. Sie soll von einer Hilfsorganisation operiert werden.

Nach ein paar Tagen in Nice View I verschlechtert sich Sherines Zustand. Gudrun fährt mit ihr deshalb  jeden Tag zur Untersuchung und Versorgung ins Krankenhaus, jeder kennt dort schon die Weiße mit ihrem Kind, und beschließt sie zu sich ins Haus zu nehmen. Keiner sagt ihr wie schlecht es um Sherine steht. Sie kann nur noch mit ihren Augen kommunizieren. An ihrem letzten Lebensabend spuckt sie und wird von Gudrun gebadet und umgekleidet. Mshila kommt dazu und besteht darauf Bilder von Sherine zu machen. Es sollten die letzten sein die sie lebend zeigen.

Am frühen Morgen verlässt Gudrun kurz das Bett. Als sie ein paar Minuten später wiederkommt, atmet Sherine, die bei ihr im Bett schläft, nicht mehr. Gudrun ruft panisch nach Shedrack, der zu dieser Zeit in Nice View I wohnt. Er kommt sofort, schaut nach Sherine und sagt: ja, die ist tot. Gudrun sinkt aufs Bett. Kann es nicht fassen. Gemeinsam versuchen sie Sherine die Augen zu schließen. Es gelingt nur noch teilweise.

Gudrun möchte mit ihrem ältesten Sohn sprechen und versucht Zuhause in Deutschland anzurufen. Sie wundert sich, weil niemand abnimmt. Sie hat ganz vergessen, dass es in Deutschland noch vor 6 Uhr morgens ist und alle noch schlafen.

Etwas später erreicht sie ihre Familie in Deutschland, und es muss nun viel geregelt werden. Das Jugendamt und die Polizei müssen informiert werden. Ein Schreiner wird beauftragt einen Sarg zu zimmern, denn in Kenia müssen Tote noch am selben Tag begraben werden. Shedrack, ein gelernter Schreiner, hilft ihm dabei, ein anderer Mitarbeiter bemalt den Grabstein, und auch sonst muss das Begräbnis vorbereitet werden.

Ich erfahre via SMS vormittags an meiner Arbeitsstelle von Sherines Tod. Ich kann es nicht fassen und versuche sofort Gudrun anzurufen. Ohne Erfolg. Ich hinterlasse ihr eine Nachricht. Abends ruft Gudrun an und wir telefonieren lange miteinander. Am liebsten würde ich sofort nach Kenia fliegen. Aber in 3 Wochen ist es sowieso soweit.

Im Kinderdorf lerne ich dann Samuel kennen. Einen kleinen lustigen Kerl, der allerdings keine Ahnung hat wozu Beine da sind. Auch will er immer sein Essen mit mir teilen. Dies zeugt von Charakter. Oder liegt es daran, dass ihn seine Mutter öfters schlug da er ihr ihren Fisch weggegessen haben soll? Welchen Fisch?

Eines Tages besuche ich auch gemeinsam mit Gudrun und einer Mitarbeiterin Saumu. Ich betrete zum ersten Mal die Krankenstationen und halte mich dicht an Gudrun. Habe bereits eine Vorahnung bezüglich dessen was uns dort erwartet.

Saumu liegt bewegungslos auf ihrem Bett, hebt allerdings zur Begrüßung einen Arm. Sofort fallen ihre Bettnachbarinnen und ihre Verwandten über uns her. Sie würde stinken. Entferne immer wieder den ihr gelegten Katheter. Sie hat aufgegeben, sagt Gudrun, schon bevor sie von Sherines Tod erfahren hat. Rührt auch ihr Essen nicht mehr an, fragt immer nur nach einer Soda. Auch hat sie sich wundgelegen. Gudrun überlegt, ob es möglich wäre jemanden zu finden der sie rund um die Uhr pflegt. Denn in Kenia müssen Patienten von Familienangehörigen versorgt werden, und Saumu hat keine Familie mehr.

Es wird uns zugetragen, dass Saumu von ihrem Schwiegervater vergewaltigt und mit HIV infiziert wurde. Daraufhin habe sie ihr Mann verstoßen. Denn kein Kenianer rührt eine Frau an die sein Vater besessen hat, werden wir aufgeklärt. Und auch ihre eigene Familie will nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Bevor wir nach Hause fahren besuchen wir noch den Vater von Mshila, der zu dieser Zeit auch im Krankenhaus liegt und auf eine Operation wartet. Schon von weitem erkenne ich ihn. Nicht weil ich ihn zuvor schon gesehen habe oder weil sein Sohn ihm ähnlich sieht. Nein, ich erkenne ihn daran, da er als einziger von 20, 30 oder gar 50 Patienten unter einem Moskitonetz liegt und die Bettwäsche sauber und bunt ist. Eindeutig Gudruns Handschrift. Auch treffen wir auf eine Frau von der Gudrun früher Gemüse gekauft hat. Sie ist da um ihren sterbenden Mann zu pflegen. Ein noch junger und ehemals kräftiger und gutaussehender Mann, jetzt ein wie ein kleiner Säugling wimmerndes Wesen. Die Krankheit hätte inzwischen das Gehirn erreicht, und auch wenn keiner die Krankheit mit Namen nennt, es ist wie bei ca. 80 Prozent aller stationären Patienten AIDS im Endstadium. Denn in Kenia geht man meist nur zum Sterben ins Krankenhaus. Wenn man es sich denn leisten kann.

Auf dem Nachhauseweg überlegt Gudrun wie Saumus Operation zu finanzieren wäre. Denn die Hilfsorganisation hat abgelehnt Saumu kostenlos zu operieren. Aber soweit soll es nicht mehr kommen. Als wir ein paar Tage später in Diani sind ruft Shedrack an. Es ist alles kaputt, sagt er. Das Krankenhaus habe angerufen. Saumu sei gestorben. Wie sollen wir dies jemals Samuel erklären, einem aufgeweckten und zwischenzeitlich körperlich völlig normal entwickeltem kleinen Jungen?