Ein Wunder

Es war ein kühler und regnerischer Tag im Juli 2015. Mr. Francis, ein Sozialarbeiter vom Jugendamt, saß in seinem Büro in Ukunda, als er ein zaghaftes Klopfen vernahm. Vor der Tür stand ein Mädchen. Durchnässt und aufgeregt. Die Stimme der Kleinen überschlug sich, als sie ihm berichtete, dass sie auf dem Müllplatz ein Wimmern gehört hatte. „Wie eine piepsende Ratte“, sagte das Kind, das ahnte, dass es kein Tier war. Das Mädchen bat den Sozialarbeiter mitzukommen und nachzuschauen. Alleine traute es sich nicht. 

Mr. Francis machte eine Pause. Er blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. Acht Jahre waren seitdem vergangen, doch er sah das Baby noch immer vor sich liegen. Zwischen Plastikverpackungen und Essensresten war das Neugeborene einfach im Müll entsorgt worden. Es gab kein Geräusch von sich. Es bewegte sich nicht. Panik stieg in ihm auf. Behutsam hob Mr. Francis das kleine Wesen auf. Und erschrak. Der Kopf des Babys war übersät von Maden. „Sie kamen aus allen Körperöffnungen.“ In seinem Arm spürte er den flachen Atem des Kindes. Der Mann überlegte nicht lange. Schnell. Er begann zu rennen. 

In einer nahen Arztpraxis wurde die Kleine notdürftig versorgt und ins Kreiskrankenhaus nach Msambweni gebracht. Mr. Francis begleitete das Mädchen. Wie dankbar war er, als sofort eine Kinderärztin zur Stelle war. Eine junge Engländerin, die sich für ein paar Monate freiwillig engagierte. Sie befreite das Baby von den unzähligen Maden und machte das Ausmaß der Verletzungen sichtbar. Eine große klaffende Wunde am Kopf, eine an der Wange. Würgemale am Hals. Offensichtlich hatte jemand versucht, das Baby zu töten, bevor es ausgesetzt wurde. Zwei bis drei Tage muss das etwa fünf Tage alte Mädchen, das gerade mal 1900 Gramm wog, auf der Müllkippe gelegen haben. Ein Wunder, dass es noch lebte. 

Zehn Tage und Nächte lang kämpfte die junge Ärztin um das Überleben das Kindes, das ihren Namen tragen sollte. Mitte August kam die erhoffte Nachricht: Tarajas (Pseudonym, da wir zum Schutz der Kinder ihre Namen nicht veröffentlichen) Zustand war stabil. Sie durfte das Krankenhaus verlassen. Mr. Francis hatte in der Zwischenzeit die Polizei eingeschaltet und es wurde entschieden, wo das Baby sein neues Zuhause finden sollte. 

Mama Gudrun brachte die Kleine nach Nice View. Für Mr. Francis das Ende einer grausamen Geschichte. Dass Tarajas Wunden zweimal am Tag versorgt wurden und schnell verheilten, bekam er nicht mehr mit. Auch nicht, dass sie sich zu einem properen Baby entwickelte, das immer sitzen wollte, schon früh laufen konnte und ständig „Dudu“ (Insekt) vor sich hin brabbelte. Doch Mr. Francis konnte das kleine Wesen, das da mitten auf der Müllkippe im Regen lag, nicht vergessen. 

Acht Jahre später saß er nun in unserem Büro und bat uns, seinen großen Wunsch zu erfüllen. Er wollte sich vergewissern, dass es dem Kind gut geht. Wir berichteten ihm, dass wir Taraja von Beginn an unsere „kleine Kämpferin“ genannt hatten. Dass es anfangs schwierig war, sie zum Lachen zu bringen. Und sie schon als Kleinkind gerne mal Ansagen machte. Wie bei einem Abendessen. Da stieg Taraja mit gerade mal vier Jahren auf einen Stuhl und rief: „Achtung, ich bitte um Aufmerksamkeit. Es ist heute zu laut. Man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen. Ich bitte um mehr Respekt.“ Mr. Francis lachte. Er war erleichtert. 

Heute ist Taraja ein interessiertes Mädchen, das es liebt, Theaterstücke aufzuführen und sich nicht scheut, etwas offen auszusprechen. Sie ist ständig um Harmonie bemüht. Wenn sich ihre Geschwister streiten, greift sie ein und möchte für Gerechtigkeit sorgen. 

Mr. Francis hörte aufmerksam zu und lächelte. Er räusperte sich und bat uns, ob es möglich sei, das Mädchen zu sehen. Tränen traten ihm in die Augen, als er Taraja an der Hand von Mama Gudrun über den Gang auf ihn zukommen sah. Er kniete sich zu Boden, nahm vorsichtig ihre Hand und stellte sich vor. Taraja blickte ihn unsicher an. Sie kennt es, Besucher zu begrüßen. Aber warum war der Mann so glücklich? Und warum weinte er? Die Gedanken waren schnell verflogen. Zwei ihrer Schwestern riefen sie und sie rannte zu ihnen auf den Spielplatz. Mr. Francis richtete sich auf. Seine Stimme zitterte, als er sich für all die Fürsorge und Liebe bedankte. Taraja so zu sehen, nicht nur für ihn ein Wunder. 

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