Lavender erzählt über ihr Leben vor und in Nice View

Erzählt von Lavender und verfasst von Wiebke Bromberg:

Es war ein Sonntagnachmittag im Jahr 2008. Ich war sieben Jahre alt und stand mit meiner Tante vor dem schweren Eisentor von Nice View. Ich war aufgeregt und schob meine Hand in die meiner Tante. Sie hatte mir gesagt: „Ich bringe dich in eine neue Schule. Abends hole ich dich wieder ab.“ Dass hinter dem Tor mein neues Leben auf mich warten sollte, ahnte ich damals nicht. Als wir das Gelände betraten, konnte ich es nicht glauben. Die Kinder spielten im Sand. Sie sprangen Seil. Sie lachten. Warum waren sie so glücklich? Mussten sie nicht arbeiten? Nervös zupfte ich an meinem Kleid, als ein Mädchen auf mich zukam. „Möchtest du mitspielen?“, fragte es erwartungsvoll. Ich blicke zu Boden und schüttelte den Kopf. Nicht weil ich es nicht gewollt hätte. Ich konnte es nicht. Wie spielte man richtig? Ich hatte es nie gelernt. Schon früher hatte ich die Kinder im Dorf manchmal spielen sehen, aber ich war nie ein Teil dessen gewesen. 

Stundenlang saß ich auf einem Plastikstuhl im Schatten eines Baumes und schaute den Kindern von Weitem beim Spielen zu. Es reichte mir, sie zu beobachten. Alleine der Anblick ihres Glücks machte auch mich glücklich. Irgendwann kam Leah und zog mich hoch. „Du spielst jetzt mit“, sagte sie bestimmt und nahm meine Hand. Ich ließ mich von ihr mitziehen und setzte mich neben sie in den Sand. Wir bauten gemeinsam eine Burg. Ich konnte nicht aufhören zu lächeln. Das mit dem Spielen hatte ich mir schwerer vorgestellt. Doch ich konnte es – ohne es jemals gemacht zu haben. Wir spielten bis es dunkel wurde und die Frau mich rief, die mir bei meiner Ankunft als Mama Gudrun vorgestellt wurde. Sie führte mich in ein Zimmer mit mehreren Stockbetten aus Holz und zeigte auf eines mit mehreren Kuscheltieren. „Das ist dein Bett“, sagte sie und streichelte mir übers Haar. Ein eigenes Bett? Meine Tante würde doch gleich zurückkommen und mich wieder abholen. Ich verstand das alles nicht. Aber ich wollte nicht fragen. Die Aussicht auf eine Nacht im Bett war zu verlockend. Nie zuvor hatte ich in einem Bett geschlafen. Ich umarmte Mama Gudrun. Die anderen Kinder wunderten sich. „Warum ist sie so glücklich?“, fragte ein Mädchen. Ich konnte nicht antworten vor lauter Glück.

Als ich abends im Bett lag, dachte ich, ich hätte meine Tante falsch verstanden. Ich würde in der Schule bleiben bis das Schuljahr vorbei sei und in den Ferien nach Hause kommen. Doch Mama Gudrun sagte: „Das ist dein neues Zuhause.“ Ich wusste nicht, was sie damit meinte und nahm es so hin. Ich war glücklich und wäre am liebsten für immer geblieben. Nachdem ich das dritte Schuljahr sehr gut bestanden hatte, ging ich in unser Zimmer und fing an meine Sachen zu packen. Leah kam herein und fragte: „Was machst du da?“ Ich verstand sie nicht. „Ich packe meine Sachen. Warum packt ihr nicht? Wir fahren doch jetzt nach Hause.“ Leah setzte sich zu mir aufs Bett. „Du wirst nicht mehr nach Hause gehen. Das hier ist dein Zuhause.“ Es war das erste Mal, dass ich verstand: Meine Tante wird mich nicht abholen. Nice View ist mein Zuhause. Noch häufig spürte ich es in den folgenden Jahren. Wenn die Mamas mich nachts streichelten, weil ich schlechte Träume hatte oder nicht schlafen konnte. Wenn sie sonntags meine Wäsche wuschen und mir verboten zu helfen, weil ich lieber spielen sollte. Wenn meine Geschwister mich baten für sie zu singen. Oder wir Ausflüge zum Strand machten. Besonders an meinem achten Geburtstag fühlte ich die Liebe meiner neuen Familie. Alle waren gekommen und saßen im Schatten unter den mit Ballons geschmückten Bäumen im Garten. Noch heute erinnere ich den Zitronengeschmack meines Geburtstagskuchens. Dazu tranken wir Kakao. Alle sangen für mich „Happy Birthday“. Nur für mich. Und in einem Korb, der oben im Baum hing und mit einem Seil heruntergelassen wurde, waren meine Geschenke. Ein Kleid, Haarklammern und zwei Bücher. Noch heute hüte ich diese Bücher wie einen Schatz. Sie werden mich immer an diesen glücklichen Tag erinnern. Es war der erste Geburtstag meines Lebens.

2008 Lavender und Mama Gudrun

Bis ich nach „Nice View“ kam, hatte ich keine Kindheit. Mein Leben war geprägt von Schmerzen und Leid. Ich kannte keine Freude. Keine Leichtigkeit, die doch eigentlich alle Kinder verspüren sollten. Ich ahnte, dass andere Kinder sehr viel glücklicher waren und fragte mich abends, wenn ich auf meiner Matte lag, ob ich jemals glücklich werden könnte. Abwaschen, aufräumen, putzen, Wäsche machen. Das konnte doch nicht alles sein. Ich war unglücklich und weinte häufig. Nicht eine einzige Umarmung, einen einzigen Kuss erinnere ich. Nur die Schläge mit dem Nudelholz. 

Meine Eltern waren gestorben, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter glaube ich an einer Lungenentzündung. Kurz darauf starb auch mein Vater. Vielleicht war sein Herz gebrochen. Nach dem Tod unserer Eltern wurden meine fünf älteren Brüder und ich auf Verwandte aufgeteilt. Mich nahmen der Bruder meiner Mutter und seine Frau auf. Heute frage ich mich oft: Warum haben sie entschieden mich zu nehmen? Haben sie mich als Baby geliebt? Warum war meine Tante so grausam zu mir? 

Ich erinnere mich noch genau an das kleine Steinhaus mit zwei Zimmern, in dem ich aufwuchs. Im ersten Raum lebte ich mit den beiden fünf und zehn Jahre älteren Töchtern meiner Tante und meines Onkels. In dem Zimmer gab es bloß eine kleine Kochstelle und ein Bett, daneben stand ein alter Karton, in dem die Kleidung aufbewahrt wurde. In dem Bett schliefen die Töchter. Ich musste davor auf dem Boden auf einer Matte schlafen. Es war nur eine dünne Plastikmatte, aber ich liebte die roten und weißen Blumen darauf. In dem Zimmer dahinter standen ein Bett und zwei Stühle für meine Tante und meinen Onkel. Die Toilette war draußen in einem Häuschen und musste mit vielen anderen Nachbarn geteilt werden. Es war ein ärmliches Leben voller Entbehrungen. Dabei arbeitete mein Onkel den ganzen Tag lang als Matatu-Fahrer. Er war ein großer, zwar nicht liebevoller, aber freundlicher Mann. Früh am Morgen verließ er das Haus und kam spät am Abend zurück. Manchmal fragte ich mich, ob mein Leben besser gewesen wäre, wenn er nicht so viel gearbeitet hätte. Vielleicht wäre meine Tante dann weniger grausam zu mir gewesen. Diese zierliche, kleine Frau mit den kurzgeschorenen Haaren. Ihre eigenen Töchter schlug sie nie. Sie lachte und spielte sogar manchmal mit ihnen.

Warum lachte sie nicht mit mir? Warum schlug sie mich? Wenn ich aus Versehen etwas fallenließ, schlug sie zu. Wenn sie etwas im Haushalt vermisste, schlug sie zu. Wenn ich nicht schnell genug arbeitete, schlug sie zu. Es gab Tausend Gründe mich mit dem schweren Nudelholz zu schlagen. Dabei war ich ein ganz normales Mädchen. Ich gab mir große Mühe die Hausarbeit richtig zu machen. Wenn zu viel zu tun war, durfte ich nicht zur Schule gehen. Und draußen mit den anderen Kindern spielen, war mir ohnehin verboten. Selbst beim Essen wollte meine Tante mich nicht dabeihaben. Hatte sie frisch gekocht, setzte sich die Familie zusammen und genoss das Essen. Ich musste die Reste der vergangenen Tage alleine zu mir nehmen. Wenn nichts da war, gab meine Tante mir manchmal Geld und ich kaufte mir davon etwas Kleines. Doch es reichte nie aus, meinen Hunger zu stillen. Ich erinnere, dass ich als Kind häufig im Bett lag und vor lauter Hunger nicht schlafen konnte. Ich hatte eine gute Freundin und einen guten Freund. Manchmal kamen sie zu unserem Haus und brachten mir heimlich etwas zu Essen oder sie gaben mir in der Schule von ihrem Essen ab. Wenn ich meine Freunde ohne das Wissen meiner Tante zu Hause besuchte, empfingen mich ihre Mütter liebevoll. Ich fragte mich, ob meine Tante jemals so zu mir sein könnte. Dabei wusste ich die Antwort. Die einzigen Momente, in denen sie mich akzeptierte, waren samstags und sonntags. Wenn ich in der Kirche sang. Die Nachbarn waren beeindruckt von meiner Stimme und gaben mir kleine Geschenke. Sie sagten meiner Tante, dass sie stolz auf mich seien könne. Und ich glaube, manchmal war sie es auch. Zumindest ein bisschen. Deshalb nutzte ich jede Gelegenheit in der Kirche zu singen. Ich wollte meine Tante glücklich machen. Vielleicht würde sie mich dann nicht schlagen. Oder zumindest nicht mit dem Nudelholz.

Die Lehrer wussten schon länger, dass bei mir zu Hause etwas nicht in Ordnung ist. Ständig kam ich mit blauen Flecken und Wunden in den Unterricht. Aber ich hatte nicht den Mut, mich ihnen anzuvertrauen. Bis zu diesem einen Morgen, an dem ich nicht mehr anders konnte. Ich wachte auf und machte mich für die Schule fertig. Meine Tante rannte durch die Zimmer und suchte etwas. Sie kam zu mir und schrie mich an: „Du hast es gestohlen.“ Ich wusste nicht, was sie meinte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, stand sie mit dem Nudelholz vor mir und prügelte auf mich ein. Sie brüllte. Ich weinte und schlug auf dem Boden auf. Noch am Boden liegend prügelte sie immer weiter auf mich ein. Bis die Nachbarn kamen und sie anschrien, sie solle sofort aufhören. Sie schlug wieder und wieder zu. Wie von Sinnen. Als sie von mir abließ, spürte ich heftige Schmerzen, besonders am Kopf. Blut rann mir über das Gesicht. Meine Tante befahl mir mich zu waschen und zur Schule zu gehen. Ich weiß nicht, wie ich an diesem Tag zur Schule kam. Aber als ich an meinem Platz saß, spürte ich eine bleierne Leere. Ich fühlte mich unendlich verlassen und legte meinen Kopf auf den Tisch. Mein Körper schmerzte. Die Lehrerin erschrak, als sie das Klassenzimmer betrat und fragte: „Hattest du einen Unfall?“ Ich schwieg. Sie brachte mich zu der Mutter meines besten Freundes, die als Lehrerin an meiner Schule arbeitete. Sie sah mich und wusste, was passiert war. Sofort brachte sie mich ins Krankenhaus und danach zur Polizei. 

Es war das letzte Mal, dass meine Tante mich schlug. Aber nachdem die Polizei ihr eine Verwarnung gegeben hatte, sagte sie: „Ich werde nie wieder mit dir sprechen.“ Aus ihrem Mund keine leere Drohung. Ich wusste, sie würde nie wieder einen Ton zu mir sagen. Eine Woche später rannte ich davon. Während die anderen noch schliefen, zog ich ein grünes Kleid mit Blumenmuster und meine rosafarbenen Schuhe an. Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden ich gewandert war, aber es muss lange gedauert haben. Irgendwann erreichte ich das Haus meiner anderen Tante. Die, die mich nach Nice View brachte. In mein neues Leben.

Dass ich heute fähig bin, über meine Gefühle und meine Vergangenheit zu sprechen, war ein Jahre andauernder Prozess. Lange Zeit war es mir nicht möglich, meine Narben zu offenbaren. Ich fand keinen Weg meine Emotionen auszudrücken. Geschweige denn zu verarbeiten.

Als ich an der Universität in Nairobi Lehramt studierte, kam im letzten Semester eine Nachricht. Harald, ein guter Freund der Nice View-Familie, war gerade aus Deutschland zu Besuch. Er hatte die Familie zu einem Wettbewerb herausgefordert. Jeder konnte einen Song schreiben und die drei besten Texte würden dann als Musikvideo aufgenommen werden. Ich las die Nachricht ein weiteres Mal und auf einmal spürte ich es. Ich würde ein Lied über meine Gefühle schreiben. Das erste Mal in meinem Leben war ich mir sicher, dass ich es konnte. Ich setzte mich an den Tisch in meinem Zimmer und begann. Niemals hätte ich geglaubt, dass es mir so leichtfallen könnte, mein Innerstes mitzuteilen. Es sprudelte aus mir heraus und es dauerte nicht lange, da hatte ich den Text auf dem Papier. Mein Song heißt „I saw the light“ – genau das Gefühl hatte ich, als ich zum ersten Mal nach Nice View kam. Ich saß am Tisch und meine Hände zitterten. Endlich hatte ich einen Weg gefunden, meine Gefühle zu beschreiben. Mein Lied war eines der besten und Harald drehte einige Wochen später ein Musikvideo. Leider konnte ich nicht dabei sein und meinen eigenen Song singen, denn ich hatte zu viel in der Uni zu tun. Aber meine Nice View Geschwister sangen mein Lied und erfüllten es mit der Liebe, die ich so viele Jahre schon erfahren hatte.

 

Heute bin ich 23, lebe in einem Appartement in Msambweni und leite die Nice View-Schule. Jeden Morgen kontrollierte ich, ob die Lehrer und Schüler in den Klassen sind. Sobald es ein Problem gibt, ein Lehrer krank ist oder ein Schüler nicht aufgetaucht, klopft es an meiner Bürotür. Ich bin die Organisatorin und finde eine Lösung für die 15 Lehrer und 174 Schüler. Und wenn ich am Ende selber den Unterricht mache. Manchmal ist es sehr hart. Die anderen Lehrer sind fast alle älter als ich und müssen sich erst dran gewöhnen, dass ich die Leiterin bin. Ich musste schon so manches Gespräch führen, weil die Lehrer mehr Gehalt forderten. Teilweise utopische Summen, die sie an keiner anderen Schule in Kenia jemals bekommen würden. Vielleicht meinen sie, es in Nice View versuchen zu können, weil das Projekt von Deutschen geleitet wird. Und Weiße, die haben bekanntlich alle Geld. Manchmal sind die Tage sehr hart und ich zweifle an mir. Kann ich das alles schaffen? Bin ich die Richtige für den Job? Wenn die Fragen in meinem Kopf zu laut werden, setze ich mich mit Mama Gudrun zusammen. Sie bestärkt mich und gibt mir die Kraft, an mich zu glauben. Wenn ich abends mit ihr spreche, wache ich morgens auf und spüre die Gewissheit: Ja, ich kann das.

Viel Zeit ist vergangen seit ich das Haus meiner Tante und meines Onkels verlassen habe. Ich habe sie nie wiedergesehen. Aber die Narben an meinem Körper werden mich immer an sie erinnern. Ich kann nicht vergessen, was meine Tante mir angetan hat. Und noch heute spüre ich den Verlust meiner Eltern. Dabei habe ich nicht eine einzige Erinnerung an sie. Doch ich habe eine andere Familie, eine andere Mama gefunden und meinen Frieden damit gemacht. Ob ich für immer in Nice View bleiben werde, weiß ich nicht. Mein großer Wunsch ist ein eigenes schönes Haus, ein Mann, der mich liebt und Kinder. Ich möchte eine liebevolle Mutter sein, die ihren Kindern ein wunderbares Leben ermöglicht. Doch egal wo auch immer ich sein werde: Nice View wird mein Zuhause sein. Und ich werde immer wieder nach Hause zurück kommen.

Eure / Ihre

Lavender 

Wir wünschen Lavender alles erdenklich Gute für den weiteren Lebensweg und bedanken uns ganz herzlich für Ihre Erzählungen und den Mut über die Vergangenheit öffentlich zu sprechen.

Ein herzliches Dankeschön an Frau Wiebke Bromberg für das Interview mit Lavender und den zur Verfügung gestellten Text.

Ihr / Euer 

Projekt Schwarz-Weiß Team

www.kenia-hilfe.com